Wir sollten die Chance wahrnehmen, die sich aus der neuen Begegnung eines durch den Dialog geöffneten, reinen, zugleich rechtlich als gleichwertig gesicherten Islam mit dem zu seinen wahren Wurzeln offenen geistigen und freien Christentums in Deutschland ergeben kann. Schon einmal war in Deutschland eine solche Vision in der größten deutschen Dichtung des Hochmittelalters, in Wolfram von Eschenbachs »Parzival«, aufgeleuchtet. Parzival als Vertreter eines geistigen Christentums und sein ihm noch unbekannter Bruder Feirefiz als Repräsentant des Islam erkennen sich nach vergeblichem Kampf gegeneinander als zusammengehörig, die zusammen erst eine Ganzheit bilden. Deutschland könnte die Stätte dieser Begegnung werden, aus der wechselseitig größte Kulturleistungen hervorgehen. Ich möchte nun zunächst auf die große Bedeutung hinweisen, die der Koran für das Verständnis der Bibel besitzt. Im Koran fließen Überlieferungsströme wieder ein, die durch die Kanonisierung des Alten und Neuen Testaments eingeschränkt oder ausgeschlossen worden sind. Die Evangelien beispielsweise sind erst am Ende des ersten bis zum Anfang des zweiten Jahrhunderts nach Christus entstanden. Die darin benutzten Überlieferungen wurden für neue Zwecke umgebogen. Die jesuanische und urchristliche Überlieferung ist nicht ungebrochen in das Neue Testament übergegangen. Der Islam spricht in diesem Zusammenhang von »Fälschungen« der Überlieferung, die durch den Koran richtiggestellt werden. Die moderne wissenschaftliche Erforschung der Evangelien bestätigt das, indem sie die Sinnverschiebungen herausarbeitet, die sich an den Überlieferungselementen ergeben hat (Form- und Redaktionsgeschichte). Die moderne theologische Wissenschaft ist geradezu leidenschaftlich bemüht, das Bild des historischen Jesus, des Menschen Jesus, wieder aus den einzelnen Überlieferungsschichten herauszuarbeiten, der seinem Volk als Prophet erschien.
Die jüdischen und christlichen Legenden, die im Koran neugeoffenbart erscheinen, trug der Prophet lange mit sich herum. Er hatte sie mündlich von jüdischen oder judenchristlichen Gewährsleuten erfahren. Sie waren in dieser Form auch den Moslems bekannt. Das alles gehört zu den asbab an-nuzul, den »Ursachen der Offenbarung«, bis dann die Neuoffenbarung und Richtigstellung durch den nuzul, den Niederstieg des klärenden Offenbarungswortes, erfolgte. In diesem Sinne urteilt der bedeutende Koranforscher Rudi Paret: »Die Reproduktion des von anderen übernommenen Materials ist . . in seinem Bewusstsein zu einem echten Offenbarungserlebnis geworden. Aber für Muhammed lag eben der eigentliche Schwerpunkt im letzten Stadium des Aneignungsprozesses. Der Sache nach mochte sein Wissen von einem fremden Menschen stammen, - in der abschließenden Formulierung in deutlicher arabischer Sprache wurde es ihm neu geschenkt, und zwar von oben, nämlich von Gott.«*1
Hier ist die Bedeutung der Judenchristen als Vermittler hervorzuheben. Es gab, wenn Sie das Neue Testament aufmerksam lesen, eine große Spaltung in der Urchristenheit, nämlich in eine Gruppe, die sich um den Bruder Jesu, Jakobus den Gerechten, scharte, die Judenchristen, und in eine andere Gruppe, die sich hauptsächlich um den Apostel Pauls scharte, die Heidenchristen. Die hatten zum Teil die gleichen Quellen der Jesusüberlieferung, legten sie aber unterschiedlich aus und - das gilt insbesondere für die heidenchristliche Gruppe - versahen sie mit Zusätzen und Umdeutungen, wie man das schon deutlich im ältesten synoptischen Evangelium, dem Markus-Evangelium, erkennen kann.
Diese beiden Gruppen bekämpften sich zum Teil bis aufs Blut. Das können Sie aus den Paulusbriefen noch herauslesen. Für die judenchristlichen Gemeinden waren viele Auffassungen, die in den heidenchristlichen Gemeinden in den Mittelpunkt der christlichen Religion traten: das stellvertretende Sühnopfer Christi, die Erbsündenlehre, die Vergöttlichung Jesu, die Abschaffung des mosaischen Gesetzes usw., unannehmbare Dinge und mit der Lehre Jesu völlig unvereinbar. Für das Judenchristentum war der Apostel Paulus der Feind, der feindliche Mann, der Unkraut in den Weizen hineingesät hat, der Pseudoapostel, der ja von sich gesagt hatte, dass ihn der historische Jesus nicht interessiere (2. Korinther 5,16). Ich will damit kein endgültiges Urteil über Paulus aussprechen, aber ich möchte Ihnen doch wenigstens andeuten, dass es da eine große Spaltung gab. So drifteten diese zwei Christentümer auseinander: siegreich die heidenchristliche Richtung, die nach Griechenland, nach Rom, also nach dem Westen hin sich ausbreitete, und nach Osten die judenchristliche Hälfte, die sich über Arabien, Syrien, Mesopotamien, Indien und nach Äthiopien hin ausbreitete. Ihren Sieg hat der bedeutende Neutestamentler Adolf Schlatter so beschrieben: Mohammed übernahm den von den jüdischen Christen bewahrten Besitz, ihr Gottesbewusstsein, ihre den Gerichtstag verkündigende Eschatologie, ihre Sitte und ihre Legende und richtete als der von Gott Gesandte ein neues Apostolat auf.«
Grüsse und Frieden mit euch allen
Alpha Omega